Die Kreatur streifte durch den Wald.
Leise. Schleichend.
Auf der Jagd.
Ihr Atem war schnell und laut und doch wurde das Geräusch vom Schnee verschluckt.
Leise knackte es und das große Wesen verharrte.
~*~
Er rannte. Die Äste peitschten gegen seinen Körper, rissen Löcher in seine Kleidung und zerkratzten seine Arme und sein Gesicht. Sein Atem ging flach und sein Herz pochte viel zu schnell in seiner Brust. Blut rauschte in seinen Ohren und seine Muskeln brannten.
Und doch konnte er nicht stehen bleiben. Der Wald, die Bäume verschwammen vor seinem Auge und er behielt einzig und allein den Blick auf den weißen unberührten Schnee vor sich.
Nicht einmal nach hinten sah er, von wo aus er das dumpfe Knirschen schwerer Pfoten auf Pulverschnee vernehmen konnte. Nein. Nicht einmal dafür blieb Zeit.
Er musste weg.
Schnell!
~*~
Ruhig hob die Kreatur ihren Kopf und schien kurz der Stille im Wald zu lauschen.
Das Knacken war nichts gewesen.
Nichts, was ihm Sorgen machen müsste.
Ein Kleintier.
Es trottete weiter. Schnüffelte mal hier, mal dort.
Suchte nach Fährten, doch der Wald war leer.
Leer.~*~
Ein Ast kam auf ihn zu, doch er schaffte es rechtzeitig seinen Arm hochzuziehen und den Arm abzublocken.
Den Riss durch seine Haut spürte er kaum. Blut war nicht wichtig.
Es würde auf den Schnee tropfen, dampfen und das gefrorene Wasser rot färben.
Sein Blick verschärfte sich wieder, als er einen umgestürzten Baum vor sich sah.
Verzweifelt keuchte er, bremste scharf vor dem Baumstamm ab und rannte ziellos tiefer in den Wald hinein.
Die im Sommer eingeritzten Kerben in der Rinde der Bäume sah er nicht.
Er sah nicht, dass ein weißer Hase vor ihm flüchtete.
Er sah bloß den Weg vor sich, erkannte die Äste und Wurzeln, denen er ausweichen musste.
Eine Bewegung.
Von links.
Nein. Rechts.
Es war ein schneller Schatten, genauso schnell wie er.
Die Augen des Jungen weiteten sich erschrocken, als ein zweiter riesiger Wolf aus dem Dickicht geschossen kam und ihn angriff.
Zu zweit!
Es waren zwei!
Und es blieb keine Zeit zu schreien.
~*~
Nicht leer.
Die Kreatur hob seine Schnauze und stieß seinen Atem in Form von heißen Dampfwolken in die kalte Nachtluft.
Es war still.
Doch da war eine Fährte.
Kein Hirsch. Kein Reh. Kein Tier.
Mensch.
Der Wolf knurrte. Fletschte die Zähne.
Dann schoss er los.
Seine Gedanken zentrierten sich auf diesen Geruch.
Diesen unverkennbaren Geruch nach Mensch.
Schwere Pfoten zerdrückten den frisch gefallenen Schnee unter ihm.
Er sprang durch Dickicht, doch die Äste berührten ihn kaum, zu dicht war sein weiß-schwarzes Fell.
Äste waren nichts.
Nichts.
Doch der Mensch war da.
Die Fährte entfernte sich, doch er verlor sie nicht.
Nicht dieses Mal.~*~
Gerade noch rechtzeitig rollte sich der Junge weg und entkam knapp dem Angriff.
Heißer Atem streifte seine Wange, doch die scharfen Zähne berührten ihn nicht.
Er keuchte und stolperte nach hinten.
Versuchte Luft zu bekommen.
Sich zu beruhigen.
Die zwei Wölfe knurrten sich kurz gegenseitig an.
Ein Grollen, dass schnell verhallte.
Adrenalin schoss durch seinen Körper, sodass er es schaffte drei Dolche aus einer kleinen Tasche an seinem Gürtel zu ziehen.
Erst jetzt begriff er.
Er war nicht derjenige, der geflohen ist.
Er war derjenige, der getrieben worden ist.
Der größte Wolf knurrte wütend und stapfte nun auf ihn zu.
Den Blick auf beide Wölfe gerichtet, schob sich der Junge nach hinten und versuchte krampfhaft seinen Herzschlag zu beruhigen.
Er würde nicht nach Hilfe schreien...
~*~
Der Wolf rannte.
Sein Atem war ruhig und seine Bewegungen geschmeidig.
Jagd.
Nichts gab es besseres für ihn, als die Jagd.
Nichts besseres als Blut, Fleisch und Töten.
Plötzlich war sie weg.
Die Fährte.Verlor sich im Schnee.
Aufgelöst.
Die Nackenhaare des Wolfes sträubten sich und ein zähnefletschendes Knurren drängte sich aus seiner Kehle.
Er war nicht allein.
Es knackte erneut und mit tiefem Grollen in der Kehle drehte sich der Wolf in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Die Schatten bemerkte er fast zu spät.~*~
Da fand er sich wieder. Von Angesicht zu Angesicht mit einem Monster. Das zweite Ungetüm war einer weiteren Fährte gefolgt. Die Anderen...
Dunkelrote Augen starrten ihn nieder und er schluckte.
Langsam hob er seine rechte Hand mit den Dolchen.
Der große Wolf fletschte die Zähne und der Junge schloss kurz die Augen, nur um sie wieder zu öffnen und die gebleckten Zähne des Wolfes direkt vor sich zu sehen.
Er holte Luft.
Er schrie.
Zähne gruben sich in das Fleisch seines Unterarms, den er in letzter Sekunde hochgerissen hatte, um sein Gesicht zu schützen.
Kein Schmerz.
Nur das Gefühl, wie die Fänge des Monsters an seinen Knochen schabten und an seinem linken Arm rissen.
~*~
Zischen von Wurfgeschossen.
Kurzer aufblitzender Schmerz, ehe sich ein schmaler Bolzen in seine Flanke bohrte. Nicht tief.
Der Wolf knurrte lauter auf, bleckte seine Zähne und stürmte in die Richtung, aus der der Bolzen gekommen war.
Ein schwarzhaariger Junge mit reuevollem, aber konzentriertem Blick.
Er hob seinen Arm.
Glänzender Stahl. Axt.
Der Wolf wich dem Angriff geschickt aus und schnappte nach dem Gesicht des Feindes.
Nein.
Nicht Feind. Opfer.
Erneut ein tiefes Grohlen aus seiner Kehle.
Erneut ein Bolzen in seinem Körper.
Zu klein, um großen Schaden anzurichten.
Sie meinten es nicht ernst.~*~
Er schrie.
Der Wolf ließ seinen Arm los, doch schnappte er erneut nach seinem Körper.
Verzweiflung stieg auf. Adrenalin.
Er hob seinen rechten Arm.
Hieb auf den Wolf ein.
Immer und immer wieder.
In die Flanke, in die Schulter, in den Hals.
Blut strömte aus den Wunden des Monsters.
Heißes, dampfendes Blut.
Immer und immer wieder...
~*~
Der Wolf ließ ein scharrendes Geräusch aus der Kehle entweichen.
Menschen.
Ungefährlicher als ein paar Rehe.
Er senkte den Kopf, wich der Axt aus und griff an.
Genug hatte er sich treiben lassen.
Immer weiter weg von seinem eigentlichen Ziel.
Jeden Monat aufs Neue traf er diese Menschen, die ihn davon abhielten, sein Ziel zu erfüllen.
Anzugreifen.
Zu töten.
Zu beißen.
Sein Biss war fest und er konnte Blut schmecken, als er seine Fänge in den Hals des Menschen versenkte.
Der Junge gurgelte, wollte schreien, vergebens.
~*~
Der Junge atmete schwer.
Hielt seinen Arm fest.
Dampf stieg nach oben, dort wo sein heißes Blut auf den kalten Untergrund traf.
Der Wolf jaulte auf, dort, wo der Wurfdolch sein Auge durchbohrt hatte, tief in seinen Schädel getrieben war.
Wandte sich und knurrte, fauchte. Schrie...
Der Junge konnte es hören. Es klang fast menschlich.
~*~
Das Ungetüm ließ mit vor Blut triefenden Lefzen vom zerschundenen, zerfleischten Körper seines Opfers ab und mit eiskalten Augen wandte es sich der letzten Fährte zu.
Die schmalen Bolzen in seinem Körper spürte es schon gar nicht mehr.
Blutrausch hielt es gefangen und mit jedem Tropfen, der im Schnee versiegte, stieg die Lust weiter zu töten, zu zerreißen, zu zerfetzen.
Blut pumpte durch seine Adern und ein tiefes Grollen entwich seiner Kehle und verhallte im tiefen, dunklen Wald.
Er wollte mehr.
Mehr Tod. Mehr Blut. Mehr Grauen, ehe der Mond wieder unterging und seine Macht verloren ging.
Ein simples Versteck-Spiel und das Monster wusste, wer gewinnen würde.
Es dauerte nicht lange und schon konnte er es hören. Das schwere, angsterfüllte Atmen eines weichen Menschens.
Ein Knurren.
Dann trieb der Wolf seine Pfoten tief in den Schnee und stieß sich nach vorne ab.~*~
Nun endlich forderte die tiefe Fleischwunde an seinem Unterarm ihren Tribut.
Schmerz trieb Tränen in seine Augen und sein schwerer Atem wurde zu einem Keuchen, während vom Adrenalin und Schock verursachte Krämpfe seinen Körper leicht schüttelten.
Züngelnde Flammen des Schmerzes ließen seinen Arm brennen und Übelkeit stieg in ihm auf.
Er war schon oft verletzt worden, doch dieser Schmerz war anders.
Dieser Schmerz war endgültig.
Mühsam stolperte der Junge vom Kadaver des riesigen Wolfes weg, hin zu einem Gebüsch, wo er sich geräuschvoll übergab.
Es dauerte nicht lange, bis sich sein nun leerer Magen wieder beruhigt hatte und mit zittrigen Knien rappelte er sich auf.
Sein Blick galt nur noch kurz dem toten Wolf.
Er drehte sich um und rannte in die Tiefen des Waldes.
Er floh.
~*~
Der Vollmond war kurz davor wieder zu verschwinden, als der Wolf sein grausames Werk beendete und auch der letzte der zwei Menschen nicht mehr als solcher zu erkennen war.
Sein Blutdurst war gestillt. Sein Hass besänftigt und das dunkle Rot auf weißem Grund beruhigte ihn.
Ein letztes Mal für diese Nacht hob der Wolf seinen Kopf und blickte in die sternenklare Nacht.
Ein letztes Mal für diese Nacht genoss er den Vollmond, dann holte er tief Luft und stieß ein grauenerregendes Heulen aus.
Sein Werk war vollbracht.